Übersetzt von
Felicia Enderes
Veröffentlicht am
30.01.2023
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Iris van Herpen über die Rolle der Frau in der Modebranche und das Geschäftspotenzial von Haute Couture

Übersetzt von
Felicia Enderes
Veröffentlicht am
30.01.2023

Die niederländische Designerin Iris van Herpen ist eine feste Größe in der Welt der Mode. Die Designerin, die 2007 ihre gleichnamige Marke gründete und sich für Technologie und Innovation begeistert, kreiert atemberaubende Haute Couture-Kleider. Ihr Talent beschränkt sich allerdings nicht nur auf ihre traumhaften und phantastischen Kreationen, sondern hat es ihr auch ermöglicht, ein unabhängiges Modehaus zu gründen, das jenseits von Trends und der Diktatur des Marktes agiert. Ihre maßgeschneiderten Stücke werden in ihrem Amsterdamer Atelier von rund 30 Mitarbeitern – zumeist Frauen – mit großer Sorgfalt und Geduld gefertigt, und erfreuen sich bei Kunden aus Europa, den Vereinigten Staaten, dem Nahen Osten und Asien großer Beliebtheit.

Anlässlich der Präsentation ihrer neuesten Kollektion auf der Pariser Haute Couture Week, einer Kollektion mit fließenden, nymphenähnlichen Entwürfen, die in einem unter Wasser gedrehten Kurzfilm präsentiert wurde, sprach FashionNetwork.com mit der 1984 geborenen Designerin über Kreativität und Feminismus, die Notwendigkeit, archaische Vorstellungen von der Branche zu überwinden, und über das Geschäftspotenzial von Haute Couture. Trotz ihrer sanften Stimme und der ihr innewohnenden geheimnisvollen Aura hat Iris van Herpen sehr klare Vorstellungen und zögert nicht, diese laut und deutlich zu äußern.


Die niederländische Designerin Iris van Herpen - FNW



FashionNetwork.com: Wie würden Sie Ihre neueste Haute-Couture-Kollektion beschreiben? Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Julie Gautier?

Iris van Herpen: Die Zusammenarbeit mit dem Titel "Carte Blanche" wurde von der weiblichen Selbstbestimmung inspiriert. Das ist ein Thema, das mit meiner kreativen Arbeit als Designerin schon immer verbunden war. In dieser Saison wollte ich jedoch tiefer in dieses Thema eindringen, das für die ganze Welt von Interesse ist. Ich habe ein Video mit Julie Gautier, einer befreundeten Künstlerin und Tänzerin, gedreht, weil ich damit die Erzählung der Kollektion weiterführen konnte. Sie ist sehr vielseitig und kann tausend Dinge auf einmal tun. Ich bin vor ein paar Jahren auf ihre Arbeit gestoßen und sie hat mich so beeindruckt, dass ich wusste, dass ich irgendwann ein gemeinsames künstlerisches Projekt machen wollte.

Anstelle einer Modenschau oder einer klassischen Präsentation erlaubte uns dieses Videoformat, einzutauchen, mit der Schwerelosigkeit den fließenden Bewegungen des Wassers zu arbeiten. Das ermöglichte mir eine andere Art der Gestaltung mit besonderen Effekten unter Wasser. Wir begannen vor einigen Monaten mit der Arbeit an unseren ersten Ideen, teilten unsere Interessen und führten ganz natürliche Gespräche, die uns schließlich zu einer Zusammenarbeit brachten, die sehr organisch verlief. Nachdem wir uns auf die Idee mit dem Wasser geeinigt hatten, bestand ein großer Teil des Prozesses darin, viele Testaufnahmen zu machen und die richtige Choreografie zu definieren.

FNW: Nach der Pandemie scheinen sich die meisten Marken von der Idee verabschiedet zu haben, ihre Kollektionen in digitaler Form zu präsentieren. Was bedeutet diese Wahl eines Videoformats für Ihre Marke?

I.V.H.: In meinem Fall brauche ich die Freiheit in Bezug auf das, was eine Kollektion brauchen könnte. Ich liebe es, Modenschauen zu veranstalten, und die nächste Kollektion wird wahrscheinlich in diesem Format präsentiert werden. Ich bin mir noch nicht sicher... Aber ich denke, es ist wichtig, unabhängig und frei zu agieren, um auf die spezifischen Bedürfnisse eines jeden Konzepts oder Projekts eingehen zu können. Letztendlich ist es das, was am meisten Sinn macht. Wir beschäftigen uns mit kreativen und spannenden Themen, wir sollten sie nicht auf ein Format beschränken oder ihnen Grenzen setzen.

"Heute gibt es zu wenig Frauen in kreativen Führungspositionen"



FNW: Haben Sie das Gefühl, dass die Modeindustrie diese Freiheit unterstützt, oder ist es ein Sektor mit eher strengen Regeln?

I.V.H: Ich denke, es ist ein eher strenges Umfeld. Die Leute neigen dazu, an ihren Mustern und Schemata festzuhalten... Ich denke, die Menschen müssen dazu inspiriert werden, aus diesen recht starren Rahmen auszubrechen. Für mich ist die Möglichkeit, diese Grenzen zu überwinden und flexibel zu gestalten, das größte Gefühl von Freiheit, das ich mir wünschen kann. Während der Pandemie haben wir alle über die Notwendigkeit gesprochen, die Art und Weise, wie die Dinge laufen, zu überdenken und das System zu ändern. Das Tempo der Präsentationen wurde in Frage gestellt, die Notwendigkeit, so viele Veranstaltungen zu organisieren... Und am Ende scheint es, als hätten wir uns alle verändert, aber die Dinge sind wieder so geworden, wie sie waren, wir sind zur alten Normalität zurückgekehrt. All dies zu hinterfragen, scheint mir eine gute Möglichkeit zu sein, sich an das zu erinnern, was wir zuvor gesagt haben, eine Art Weckruf: "Hey, Leute, es gibt noch andere Möglichkeiten, unsere Kreativität auszudrücken!" Gemeinsam sollten wir ein Ökosystem der Freiheit schaffen.


Iris van Herpen



FNW: Wie ist es, als Frau in dieser Branche unkonventionelle Ideen einzubringen, die das System herausfordern?

I.V.H.: Offensichtlich war die Modebranche bis jetzt eine sehr männerdominierte Branche. Heute gibt es nicht genug Frauen in kreativen Führungspositionen, und ich denke, es ist wichtig, sich zu behaupten und zu unterstreichen, dass wir diesen weiblichen Touch brauchen. Die Mode muss Visionen von Weiblichkeit vermitteln, die von Frauen geschaffen werden. Das ist eine sehr wichtige Botschaft, die wir weitergeben müssen.

FNW: Wie geht die Mode heute mit Feminismus und weiblicher Selbstbestimmung um? Inwiefern muss sich die Branche weiter öffnen und Frauenbelange auf eine andere Art und Weise angehen?

I.V.H.: Es ist wichtig, dass die Mode Frauen einbezieht und sie in die Positionen bringt, die ihnen zustehen. Man muss Frauen als Designerinnen unterstützen und gleichzeitig Frauen in die Teams holen und einbinden. Es geht darum, transzendentale Entscheidungen zu treffen, die nach und nach den sozialen Wandel in dieser Branche bestimmen. In meiner Marke sind wir ein großartiges Team von Frauen, und darauf bin ich sehr stolz. Es ist meine bescheidene Art, der Branche zu zeigen, dass der Aufbau von Frauenteams nicht nur möglich, sondern unerlässlich ist. Auch wenn es darum geht, das Konzept der Kollektionen zu entwerfen oder die größere Wirkung der Botschaft zu verstehen, die man vermitteln möchte, ist es wichtig, immer wieder auf Probleme und Ungerechtigkeiten hinzuweisen.

FNW: Wie verstehen Sie aus kreativer Sicht das Phänomen des "Female Empowerment"?

I.V.H: Ich denke, dass es im Grunde darum geht, unsere Kreativität zu teilen und zusammenzuarbeiten, wie ich in diesem Fall das Glück hatte, dies mit Julie zu tun. Ich persönlich fühle mich dadurch am meisten gestärkt: zu einer Kollegin aufschauen zu können, von ihrer Arbeit zu lernen und etwas zu schaffen, das größer ist als das, was wir allein hätten schaffen können. Ich liebe die Zusammenarbeit und den Austausch kreativer Ideen mit anderen Frauen, das ist die reinste und sinnvollste Form von Empowerment.


Carte Blanche-Kollektion - Iris van Ferpen



FNW: Was konnten Sie aus dieser jüngsten kreativen Partnerschaft lernen?

I.V.H: Julie hat große Kraft und Körperbeherrschung. Sie ist in der Lage, einen Freitauchgang bis zu einer Tiefe von 60 Metern zu machen oder 6 Minuten unter Wasser zu bleiben, während mir nur die Vorstellung Angst bereitet. Ich finde ihre Verbindung zwischen Körper und Geist als Tänzerin faszinierend, wenn man bedenkt, dass ich selbst Tanz studiert habe, bevor ich den Sprung in die Modebranche wagte. Die Fähigkeit, seinen Körper über seine eigenen Grenzen hinaus anzustrengen, erfordert eine mentale Stärke – fast meditativ –, die ich sehr bewundere. Es war eine unglaubliche Erfahrung, unsere Fähigkeiten unter Wasser zu vereinen.

"Konfektionskleidung ist nicht der einzige Schlüssel zum Erfolg"



FNW: Wie verhalten sich die Stoffe unter Wasser, was sind die Besonderheiten bei dieser Art von Design?

I.V.H: Es ist definitiv anders als bei nicht untergetauchten Stoffen. Ich wusste nicht, dass die Kleidungsstücke, wenn sie im Wasser sind, je nach der Tiefe, in der sie sich befinden, dazu neigen, an die Oberfläche zu treiben, oder umgekehrt. Um zu verhindern, dass sie untergehen, haben wir ein Podest aufgestellt, auf dem Julie ihre Choreografie vorführen konnte. Außerdem reagieren die Materialien je nach Körpertyp unterschiedlich.


 


FNW: War es eine schwierige Erfahrung?

I.V.H.: Ich würde sagen, es war eine ziemliche Herausforderung, aber Julie ist so professionell, dass alles gut geklappt hat. Wir haben uns sehr viel Mühe mit dem Aussehen und dem letzten Schliff der Kleidungsstücke gegeben, und am Ende war ich wirklich überrascht, wie gut sie aus dem Wasser kamen – sie sahen gar nicht so aus, als wären sie so tief unter Wasser gewesen! Ich bin sehr stolz darauf, dass mir dieser gleichermaßen zarte wie kraftvolle Eindruck gelungen ist.

FNW: Haben Sie bei solch kreativen Entwürfen jemals darüber nachgedacht, in Zukunft mehr kommerzielle Konfektionsware anzubieten?

I.V.H.: Daran habe ich kurz nach dem Gewinn des Andam-Preises 2014 gearbeitet. Die Präsentation einer Konfektionslinie war eine der Voraussetzungen für den Preis. Ich habe dafür viel Unterstützung erhalten. Meine kreative Sprache hat jedoch viel mehr mit handwerklichem Können und Innovation zu tun. Das hat für mich keinen Sinn ergeben. Es fällt den Fabriken sehr schwer, diese beiden grundlegenden Ideen zu verstehen, auch wenn wir mit den Besten in Frankreich oder Italien zusammenarbeiten. Wir versuchen, diese Ideen zu übersetzen, aber es funktioniert nicht....

Auch die Mentalität basiert nicht auf Hingabe und Sorgfalt. Sie geben der Quantität den Vorrang vor der Qualität, und meine Sichtweise ist genau das Gegenteil. Es ist mir egal, ob ich 1000 Kleidungsstücke verkaufe oder nicht, meine Arbeit spricht für den einzigartigen Charakter des von uns geschaffenen Stücks, das mindestens 200 Jahre lang halten soll. Ich möchte zeitlose Kleidungsstücke schaffen, die wie Kunstwerke wirken. Als ich in den Fabriken gearbeitet habe, hatte ich das Gefühl, mich nicht frei ausdrücken zu können, als ob ich sprechen würde, aber niemand mich hören könnte. Ich habe großen Respekt vor ihrer Arbeit und ihren Prozessen, aber in meinem Fall passt das nicht zu meinem Verständnis von Mode. Meine Arbeitsweise ist anders, und sie besteht darin, Techniken zu erfinden, die kein anderes Atelier auf der Welt anwendet. Es ist ein sehr persönlicher Prozess, der dazu beiträgt, ganz besondere Beziehungen zu meinen Kunden aufzubauen.

FNW: Viele unabhängige Designer bringen dennoch Konfektionslinien auf den Markt, um ihre kreativen Kollektionen zu finanzieren. Was halten Sie davon?

I.V.H.: Meiner Erfahrung nach gibt es manchmal eine Menge Missverständnisse. Als ich den Andam-Preis gewann, haben mir alle gesagt, dass ich in diese Richtung gehen muss, weil Prê-à-porter die einzige Möglichkeit ist, Geld zu verdienen. In Wirklichkeit ist das aber nicht immer der Fall, und viele Designer müssen ihre kreativen Kollektionen aufgeben. Konfektionskleidung ist nicht der einzige Schlüssel zum Erfolg, es gibt noch andere Wege. Es geht darum, den Weg zu finden, der es einem erlaubt, geschäftlichen Erfolg zu haben, der aber dennoch mit der eigenen Art, Dinge zu kreieren und zu verstehen, übereinstimmt. Für mich kann man nur erfolgreich sein, wenn man das tut, woran man wirklich glaubt und was einen selbst ausmacht. Alles andere wird nicht funktionieren. Und man darf nicht vergessen, dass Haute Couture auch ein großartiges Geschäft sein kann.

FNW: Wer sind in Ihrem Fall Ihre Kunden?

I.V.H.: Es gibt nicht den einen Kundentyp und die Schönheit liegt in ihren Unterschieden. Die meisten von ihnen sind Frauen, aber ich habe auch Kunden anderen Geschlechts. Sie sind zwischen 25 und 70 Jahre alt und haben im Allgemeinen eine große Leidenschaft für Mode, Handwerkskunst und Innovation. Sie sind geduldige Kunden, die verstehen, dass der Entstehungsprozess lange dauern kann und dass dies ein Teil der Geschichte der Kleidungsstücke ist.

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