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19.04.2019
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iTech Style Summit Porto: Ideen und Inspiration für bessere Mode von morgen

Veröffentlicht am
19.04.2019

Normalerweise ankern hier, am Leixões Cruise Terminal im Hafen von Porto, Kreuzfahrtschiffe mit Touristen, die von Bord strömen, um die portugiesische Hafenstadt zu erkunden. Vom 02. bis 04. April war das futuristische Gebäude Treffpunkt für die Mode- und Textilbranche, die sich hier während des iTech Style Summit über die Zukunft und Herausforderungen der Branche austauschte.

iTech Style Summit



"Nachhaltigkeit ist ein Prozess, der ökologische und soziale Standards miteinander vereint"

Am ersten Tag des iTech Style Summits stellte Georg Dieners, Generalsekretär von Oeko-Tex, das Textil-Label Made in Green vor. Es zertifiziert, dass ein Kleidungsstück aus schadstoffgeprüften Materialien mit Hilfe umweltfreundlicher Prozesse sowie unter sicheren und sozial verantwortlichen Arbeitsbedingungen hergestellt wurde. "Made in Green ist ein sehr umfassendes Siegel, das nicht nur auf die Inhaltsstoffe des Textils einzahlt, sondern zum Beispiel auch die Abfall-, Abwasser- und Schlamm-Thematiken berücksichtigt", erklärt Dieners gegenüber FashionNetwork.com. Damit reagierte die Organisation auf die Kritik von Greenpeace, die zuvor die fehlende Berücksichtigung dieser Umweltaspekte bemängelte.

Zu Beginn seiner Präsentation fasste Dieners die Auswirkungen des Klimawandels für die Textilproduktion zusammen: Unberechenbare Wetterkapriolen erschweren das Ordergeschäft und der steigende Meeresspiegel hat vor allem in Hochburgen der Textilproduktion wie Bangladesch schwerwiegende Folgen. Da das Land sehr flach ist, schätzen Experten die Hälfte der Landesfläche als stark überschwemmungsgefährdet ein. Die geographischen und klimatischen Bedingungen Bangladeschs machen das Land und seine 150 Millionen Einwohner besonders anfällig für die Folgen des weltweiten Klimawandels. Auch Wasser, das für die Textilproduktion in großen Mengen benötigt wird, ist in Zukunft eine knappe Ressource. Die Folge: Bis zum Jahr 2050 könnte es bis zu 200 Millionen Klimaflüchtlinge geben.

Auszug aus der Präsentation von Georg Dieners, Generalsekretär Oeko Tex, während des iTech Style Summits in Porto - Georg Dieners


Dieners appelliert daher an Unternehmen, die Zukunft der Textilindustrie in eine nachhaltige Richtung zu lenken. "Nachhaltigkeit ist ein Prozess, der ökologische und soziale Standards miteinander vereint", erklärt er. Laut Dieners unterstütze der Zertifizierungsprozess von Oeko-Tex Unternehmen dabei, den Weg zur Nachhaltigkeit Schritt für Schritt gemeinsam zu gehen.


"Wir streben heute nach einer Balance zwischen Körper und Geist."

Der Trendforecaster David Shah, der unter anderem mit dem renommierten Farbinstitut Pantone kollaboriert und das Branchenmagazin View herausgibt, lieferte einen umfassenden Einblick in unseren Zeitgeist. Als Ausgangsthese stellte er fest: "Unser physisches und psychisches Wohlbefinden ist alles was uns Menschen ausmacht. Wir wünschen uns heute mehr denn je eine Balance zwischen Körper und Geist."

Unter dem Begriff "Coping Economy" fasste Shah das Streben nach Naturverbundenheit, Spiritualität, innerer Ausgeglichenheit und mentaler Gesundheit zusammen. Eng damit verknüpft ist der Wellnessmarkt: Wie das Global Wellness Institut kürzlich veröffentlichte, setzte die Wellness-Wirtschaft im vergangenen Jahr 4,2 Mrd. US-Dollar um. Die zentrale Zielgruppe in Shahs Trendforecast bilden die Millennials, für die Erlebnisse der neue Besitz sind.

Den zweiten Megatrend fasst Shah unter dem Begriff "Fitness Economy" zusammen. "Ein Fitnessstudio in der Nähe kann sogar die Immobilienpreise bis zu 10 % in die Höhe schnellen lassen", erklärt er gegenüber FashionNetwork.com. "Das Fitnessstudio ist das neue Fashion-Musthave und Statussymbol, Treffpunkt und Gemeinschaft für körperbewusste Großstädter." Das zeige sich auch deutlich in den Sozialen Medien; sogenannte "Instafit-Influencer" verdienen mit Health-Posts teilweise Millionen.

Neben dem Fitnessstudio gehört für die junge Zielgruppe auch die körperliche Betätigung durch Outdoor-Aktivitäten wie Wandern, Biking, Climbing und Kayaking zum Lebensstil. "In einer weiteren Studie geben 81 % der Teenager an, dass sie es wichtig finden viel Zeit in der Natur zu verbringen", erklärt Shah. Für die Textilindustrie bedeutet der boomende Fitnesstrend vor allem eins: den Fokus für die kommenden Saisons noch stärker auf Street- und Sportswear zu legen. Wohingegen die Mode im vergangenen Jahr zu Ugly Sneakers tendierte, sind in dieser Saison schlichte, funktionale und waschbare Trainer in.


"Immer mehr Verbraucher fordern von Modemarken soziales Engagement und Umweltverträglichkeit"

Laut einer Umfrage der Agentur JWT, finden 78 % der befragten amerikanischen Konsumenten, dass Unternehmen soziale Verantwortung übernehmen und sich klar gegen gesellschaftliche Missstände positionieren sollten. 55 % der Generation Z entscheiden sich zunehmend für soziale und ökologische Marken. Die neue Anti-Trump-Protestkultur fordert auch Lifestylemarken dazu auf, sich politisch zu engagieren. Marken wie Nike haben reagiert und thematisieren mit Kampagnen wie "Dream Crazier", unter anderem die Gleichberechtigung von Frauen im Sport.


"Künstliche Intelligenz kann voraussehen was Konsumenten wollen, bevor sie es selbst wissen"

Ein weiterer interessanter Vortrag war der von Dr. Nick Almond, Physiker und Professor am London College of Fashion. Er stellte das Potenzial von Technologien wie Künstliche Intelligenz, Blockchain und XR für die Modeindustrie vor. "Technologie ermöglicht es uns, Dinge zu tun die vorher unmöglich waren. Technologie ist angewandtes Wissen in der Praxis. Es ist essentiell für jede Branche, die Entwicklung von Innovationen mit wachsamen Auge zu verfolgen", erklärt Almond. Denn oftmals würden wir die Bedeutung von Innovationen nicht sofort erkennen. Als Beispiel nannte der die Digitalkamera, die vor ihrem eigentlichen Durchbruch im Massenmarkt bereits Jahrzehnte existierte. Mit Künstlicher Intelligenz und Blockchain könnte das ähnlich verlaufen. Auf einer der begleitenden Folien zur Präsentation zitiert Almond den österreichischen Ökonom Peter Drucker: "Die Zukunft vorauszusagen ist wie nachts im Auto auf einer Landstraße ohne Scheinwerferlicht zu fahren und dabei aus dem Heckfenster zu schauen."

Auszug aus der Präsentation von Nick Almond - Nick Almond


Trotz aller Unsicherheit ist Almond überzeugt: Blockchain wird die Modeindustrie verändern und dabei helfen, komplexe Wertschöpfungsketten transparent und rückverfolgbar zu machen. "Blockchain funktioniert gewissermaßen wie ein dezentralisiertes Vertrauens-Netzwerk, das digitale Identitäten von Produkten, vom Rohmaterial über die Fertigung bis zum Endartikel erstellt, und Kopien davon in Tausenden Computern auf der ganzen Welt gleichzeitig speichert", erklärt er.

Im Verlauf der Präsentation zeigt Almond auch die Potenziale und Grenzen von Künstlicher Intelligenz auf. "Trends sind Muster und in der Auswertung dieser Muster hat Künstliche Intelligenz besonders viel Potenzial. KI kann voraussehen was Konsumenten wollen, noch bevor sie es selbst wissen. Dabei kommt es aber darauf an, wie relevant die Daten sind, mit denen die Algorithmen gefüttert werden", so Almond. Außerdem fehlt es an Experten, die in der Lage sind sie zu entwickeln und anschließend zu "trainieren". Eine weitere Einschränkung ist, dass Algorithmen ausschließlich in der digitalen Welt funktionieren.


"In Zukunft können wir virtuelle Kleidung produzieren, die der Konsument vor dem Kauf digital anprobiert"

Der Bereich XR, der Virtual Reality, Mixed Reality und Augmented Reality umfasst, verändert unsere Wahrnehmung, indem digitale und analoge Realität miteinander verschmelzen. Auch das bietet großes Potenzial für die Modeindustrie, vor allem schafft es neue Shopping-Erlebnisse: "Wir können in Zukunft zum Beispiel digitale Kleidung produzieren, die der Konsument vor dem Kauf als Avatar anprobieren kann", so Almond.

Auch Augmented Reality-Fashion Shows sind heute schon Wirklichkeit. Die Innovationsagentur FIA vom London College of Fashion kooperierte dafür mit HoloMe, einem Pionier im Bereich Augmented-Reality, um ausgewählte Kollektionen der Absolventen des London College of Fashion zu präsentierten. Zuschauer an verschiedenen Orten der Welt konnten die Show am Tag vor dem Start der London Fashion Week in Echtzeit über ihre Smartphones verfolgen.

 



"Umweltschutz ist gut, soziale Verantwortung ist besser"

Ein besonderes Highlight haben sich die Veranstalter des iTech Style Summits für den letzten Tag aufgehoben: In einem halbstündigen Vortrag stellte UN-Mitarbeiter Simone Cipriani die Ethical Fashion Initiative vor, die Kunsthandwerker aus Ländern wie Mali, Nairobi, Haiti, Afghanistan, Peru und Mexiko mit der internationalen Modeindustrie zusammenführt.

Dabei stellte Cipriani vor allem die soziale Komponente von Nachhaltigkeit heraus und appellierte an die Branche, soziale Verantwortung gleichbedeutend mit Umweltschutz zu betrachten. Er führte an, dass in der globalen Mode- und Textilindustrie 60 Millionen Menschen aus den Entwicklungsländern arbeiten. Richtig und ethisch umgesetzt, verfüge die Branche also über ein enormes Potenzial, Armut zu bekämpfen, das Leben der Menschen zu verbessern und Fluchtursachen zu minimieren. Dabei betonte er immer wieder, dass die Ethical Fashion Initiative keine Charity-Aktion sei, sondern harte Arbeit, die der Massenproduktion lokale Handwerkskunst entgegensetzt.

 


Das schätzen auch renommierte Modedesignerinnen wie Vivienne Westwood, Ilaria Venturini Fendi und Stella McCartney, die Teile ihrer Accessoire-Kollektion von den Kunsthandwerkern der Ethical Fashion Initiative anfertigen lassen.

"Früher produzierte ein Kunsthandwerker eine Tasche von Anfang bis Ende. Heute, in Zeiten der Massenproduktion, geht das Produkt im Herstellungsprozess durch viele Hände. Damit wird die Arbeit entwertet", erklärt Cipriani gegenüber FashionNetwork.com. "Das erhöht zwar die Gewinnspanne für Unternehmen, aber es verschlechtert allmählich die Position der Menschen in der Branche. Wir gehen deshalb zum Handwerk zurück, zu qualitativ hochwertigen Produkten. Das ist unser Verständnis von Luxus."

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